Sebastian Steffen ist Autor, Musiker und Kinderbetreuer. Mit dem Roman «I wett, i chönnt Französisch» gewinnt er 2024 einen der Literaturpreise des Kantons Bern – mit einer Lese-Rechtsschreibstörung (LRS).
Sebastian Steffen ist einer von schätzungsweise 70'000 Menschen im Kanton Bern, die Mühe mit einer der Grundkompetenzen haben. Dazu gehören Lesen, Schreiben, Rechnen und der Umgang mit digitalen Medien.
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Herr Steffen, können Sie beschreiben, welche Alltagssituationen für Sie schwierig sind und wie Sie damit umgehen?
Sebastian Steffen: Eigentlich ist jede SMS eine Herausforderung. Das Lesen geht; aber antworten? Das braucht viel Energie. Mit Lesen und Schreiben verbinde ich keine positiven Gefühle. Eine Nachricht löst immer zuerst Stress aus. Entweder überwinde ich diesen rasch und antworte oder ich schiebe die Antwort vor mich hin. Letzteres führt dazu, dass ich gar nicht oder zu spät antworte. Vergessen kann ich es aber nie! Verdrängen gelingt mir nur für eine kurze Zeit. Danach spüre ich wieder den wachsenden Klumpen im Bauch und muss mich dazu überwinden, zu antworten.
Darum mag ich Sprachnachrichten. Mir fällt es leichter, den Inhalt zu verstehen und mein Umfeld hat Verständnis dafür, dass ich sie bevorzuge. Ich merke aber, nicht alle mögen sie. Deshalb versuche ich, mich in Sprachnachrichten so kurz wie nötig zu halten.
Mit der Zeit habe ich mir verschiedene Techniken angeeignet, um mit Schwierigkeiten umzugehen. Diese wende ich aber nicht immer konsequent an. Mir hilft es, wenn ich mich zwinge, Anfragen direkt zu beantworten. Oder morgens zu schreiben, anstatt nachts, vor dem Schlafengehen. Und auch ChatGPT hilft mir ab und zu: Dank KI spare ich viel Zeit und mir nimmt das Tool ein wenig den Stress. Gleichzeitig hat KI etwas Beängstigendes.
Gehen Sie heute anders mit Ihrer Lese-Rechtschreibstörung um als früher?
Sebastian Steffen: Früher in der Schule bin ich an meiner Lese- und Rechtschreibstörung fast verzweifelt. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, jemals wieder etwas zu machen, das mit Schreiben und Lesen zu tun hat. Dann merkst du, wie oft du trotzdem dazu gezwungen bist im Alltag: Ich muss Steuererklärungen ausfüllen, Briefe lesen, mich mit Versicherungen rumschlagen. In solchen Situationen verlor ich früher jede Hoffnung.
Über die Jahre und mithilfe von Psychotherapie hat sich meine Situation verbessert. Durch die Auseinandersetzung mit mir und meinem Zugang zum Lernen, entwickelte ich für mich passende Techniken: Ich bin eher der auditive Lerntyp, verarbeite Informationen einfacher übers Gehör, oder darf auf Hilfsmittel wie Wikipedia zugreifen. Dank dieser Techniken wurde das LRS- und Schreib-Thema immer weniger emotional. Das Thema bleibt aber mit Schmerz verbunden, heute kann ich damit aber besser umgehen.
Was oder wer motiviert Sie, sich mit LRS so intensiv mit Sprache zu beschäftigen?
Sebastian Steffen: Mein Haupttreiber ist es, das Chaos in meinem Kopf zu ordnen, indem ich sinnvolle Sätze herausschäle. Durch Beobachten und Schreiben, breche ich diffuse Gedanken auf ihre Essenz herunter und verstehe sie damit besser.
In meiner Kindheit las mir meine Mutter viele Geschichten vor und wir schauten zusammen viele Filme. Vielleicht habe ich da ein Gefühl für Bildsprache entwickelt. Was muss gesagt werden? Was nicht? Wenn ich früher alleine las, gelang mir das nicht.
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Ihre Romane werden öffentlich diskutiert, gelobt, sogar ausgezeichnet. Vom Schreiben abgesehen: Worin, finden Sie, sind Sie gut oder was machen Sie gerne?
Sebastian Steffen: Mein Durchhaltewillen ist ausgeprägt und ich mag es nicht, entmutigt zu werden. Ich bin sehr neugierig. Diese Grundneugier bringt mich dazu, Bücher zu schreiben oder mich Dingen zu stellen, die ich mir im ersten Moment nicht zutraue. Dank ihr, sehe und freue mich über vermeintlich kleine, alltägliche Dinge.
Was macht Ihnen Mut, weiter zu lernen?
Sebastian Steffen: Ich setze mich gerne mit Dingen auseinander, die ich entweder im Alltag brauche oder mich interessieren. Solange ich lebe und neugierig bleibe, werde ich Neues finden, das mich interessiert und womit ich mich auseinandersetzen will.
Möchten Sie anderen betroffenen Personen etwas mitteilen?
Sebastian Steffen: Das ist eine schwierige Frage. Lebenssituationen sind so vielfältig, dass einfache Antworten diesen nicht gerecht werden. Mir half die Auseinandersetzung mit mir und den schmerzhaften Erfahrungen in der Therapie; Schmerz und Erfahrungen sprachlich ausdrücken, ein neuer Umgang erlernen und mich weiterentwickeln, weiterzukommen.
Was sagen Sie Personen, die noch nie etwas über Grundkompetenzen gehört haben?
Sebastian Steffen: Das Thema müsste in der Öffentlichkeit sichtbarer werden. Auch über Medien. Eine Lese-Rechtschreibstörung hat nichts mit kognitiven Fähigkeiten zu tun! Sie hat komplexe, vielfältige Ursachen und sollte nicht nur als Beeinträchtigung gesehen werden. Vielleicht sollten wir uns selbst häufiger fragen, worum es uns wirklich im Leben geht. Über die Auseinandersetzung mit unseren Werten, lernen wir vielleicht auch mehr die Vielfalt menschlicher Fähigkeiten mehr zu schätzen.
Weitere Interviews
Die Sensibilisierungskampagne «Einfach besser!» will Erwachsene mit Lücken in den Grundkompetenzen ansprechen und für einen Grundkompetenzen-Kurs motivieren. Gleichzeitig wird die Bevölkerung über Grundkompetenzen sensibilisiert.
Hotline für Betroffene: 0800 474 747
Aline Leitner & Fabienne Müller
Fotos: Florian Spring