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Zukunft der Berufsbildung — «Wir müssen kreativer werden und mehr Leute ins System holen»

« Wir müssen kreativer werden und mehr Leute ins System holen», sagt Philipp Gonon. Bild: zvg.

Philipp Gonon setzt sich in seinem neuen Buch «Ein Handwerk studieren» kritisch mit der Zukunft der Berufsbildung auseinander. Der emeritierte Professor für Berufsbildung fordert, sie müsse grüner, hybrider, durchlässiger, inklusiver werden.

Rolf Marti

Herr Gonon, Ihr jüngstes Buch heisst «Ein Handwerk studieren». Was meinen Sie damit?
Der Titel ist eine kleine Provokation, weil die Akademisierung für viele ein Schreckgespenst ist. Aber wir sollten Handwerk und Studium nicht als Gegensätze denken. Viele Berufsleute absolvieren heute nach der Lehre eine höhere Fachschule, eine Fachhochschule oder gar ein universitäres Studium. Praktische Skills, erfahrungsbezogenes Wissen und Theorie finden so zusammen. Diese Entwicklung der Berufsbildung finde ich positiv.

Sie stellen in Ihrem Buch die Grundsatzfrage, ob die bis anhin erfolgreiche Berufsbildung Bestand haben wird. Fragen wir grundsätzlich zurück: Hat sie oder hat sie nicht?
Sie hat – vorausgesetzt, dass sie sich wie bisher fortlaufend erneuert. Wir dürfen uns auf dem Erreichten nicht ausruhen und müssen Innovation ermöglichen. Darauf zielt der Untertitel meines Buches: «Die Revision der Berufsbildung».

Ist dies das einzige Risiko für die Berufsbildung in der Schweiz?
Nein. Die Berufsbildung könnte an Prestige verlieren, sodass sich weniger Jugendliche für eine Lehre entscheiden. Oder die Unternehmen könnten ihr Engagement zurückfahren, weil Lernende ausbilden aufgrund veränderter Rahmenbedingungen nicht mehr rentiert. Auf solche Entwicklungen müssen wir achten. Ein weiteres Risiko: innovationsgetriebene, junge Branchen zeigen sich gegenüber der Berufsbildung eher zurückhaltend. Die Gründe dafür wurden wissenschaftlich noch zu wenig untersucht.

Sie sagen: Die Berufsbildung müsse grüner, hybrider, durchlässiger, inklusiver werden. Betrachten wir diese Forderungen einzeln. Ist die Berufsbildung nicht grün genug?
Sie muss grüner werden. Wie in der Wirtschaft hat auch in der Berufsbildung vieles einen grünen Anstrich, aber in der Realität passiert kaum etwas. Wir müssen stärker in die Umsetzungsebene kommen. Einen interessanten Ansatz habe ich in Deutschland gesehen, wo Lernende den Auftrag erhalten, ihren Lehrbetrieb grüner zu gestalten. Die grüne Transformation wird also direkt mit den Lernenden vorangetrieben.

Die Berufsbildung soll hybrider werden. Was verstehen Sie darunter?
Die Berufsbildung muss in zwei Richtungen hybrider werden. Einerseits müssen wir dafür sorgen, dass mehr Lernende sowohl arbeitsmarkt- als auch studierfähig werden. Dazu müssen wir beispielsweise die Berufsmaturität fördern, welche die Tür zu den Fachhochschulen und – via Passerelle – zu den Universitäten öffnet. Andererseits müssen wir neue, hybride Lernformen fördern. Dazu gehört der Einbezug von simulativem Lernen mithilfe von erweiterter oder virtueller Realität. In solchen Settings können Kompetenzen erworben werden, die in der Realität nicht oder nur schlecht zu vermitteln sind, weil unter Umständen das Gefahrenpotenzial zu gross oder die Kosten zu hoch wären.

Die Schweiz rühmt sich, ein durchlässiges Bildungssystem zu haben. Sie fordern mehr davon. Wo orten Sie Luft nach oben?
Wir haben Durchlässigkeit auf dem Papier, aber kaum in der Realität. Es gibt zu viele Hürden. Wer beispielsweise nach der Berufsmaturität an die Uni will, muss die Passerelle absolvieren; ein happiges Programm. Besonders gravierend: Viele Jugendliche schaffen – oft aus sprachlichen Gründen – den Einstieg in eine zweijährige Grundbildung und damit ins Bildungssystem nicht. Da braucht es mehr Unterstützungsangebote. Zudem sollten wir die Bildungswege vermehrt als Ganzes denken, von der Lehre bis zur Fachhochschule. Wer leistungsstark ist, sollte nicht vier Jahre Lehre und vier Jahre Studium absolvieren müssen, sondern rascher vorwärts kommen. Das bedingt, dass wir die Lehrgänge modularisieren.

Ihre vierte Forderung: Mehr Inklusion. Gibt es in der Berufsbildung Diskriminierungen?
Ja. Menschen, die in die Schweiz nicht arbeiten oder keine Ausbildung machen dürfen. Zudem gibt es in einzelnen Berufen geschlechtsspezifische Hürden. Die Berufsbildung sollte ein offenes Haus sein. Wer Handicaps hat, muss unterstützt werden. Es wird zwar einiges getan, aber nicht genug. Da haben wir noch Potenzial, auch mit Blick auf den Fachkräftemangel. Wir müssen kreativer werden und mehr Leute ins System holen.

Zum Schluss: Sie bemängeln in Ihrem Buch, dass die Berufsbildung in der Schweiz oft vorbehaltlos gelobt werde. Ist sie schlechter als ihr Ruf?
Man kann das Glas halb voll oder halb leer sehen. Fakt ist: Das Gute ist der Feind des Besseren. Wir dürfen nicht träge und selbstzufrieden werden.

Zur Person

Philipp Gonon war von 2004 bis 2021 ordentlicher Professor für Berufsbildung an der Universität Zürich. Heute begleitet er in Teilzeitanstellung ein Forschungsprojekt zur Digitalisierung an Schulen der Sekundarstufe II.

Zum Buch

Das Buch «Ein Handwerk studieren oder die Revision der Berufsbildung» ist im hep-Verlag erschien. Preis: Fr. 37.–. www.hep-verlag.ch

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