Alessia Indino ist frisch diplomierte Coiffeuse EBA. Im Rahmen ihrer Vertiefungsarbeit an der Berufsfachschule gibb hat sie sich mit dem Thema Zwangsstörungen auseinandergesetzt. Im Gespräch gibt sie Einblick in ihre Arbeit und beleuchtet die Ergebnisse.

Peter Brand
Frau Indino, Ihre Vertiefungsarbeit wird am 22. August 2025 an der gibb mit dem 1. Preis in der Kategorie der zweijährigen beruflichen Grundbildungen ausgezeichnet. Herzliche Gratulation! Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Sehr viel, ich bin sehr stolz darauf. Die Zeit, während der ich die Arbeit schrieb, war für mich alles andere als einfach. Deshalb freut es mich umso mehr, dass ich so gut abgeschnitten habe. Ich hätte das gute Resultat nie erwartet. Das zeigt mir, dass man nie aufgeben sollte.
Sie befassten sich mit dem Thema «Leben mit einer Zwangsstörung». Warum gerade dieses Thema?
Ich bin selbst von einer Zwangsstörung betroffen. Bei mir äussert sie sich in Form eines Ordnungszwangs. Alle Dinge und Gegenstände haben bei mir ihren festen Platz, alles muss in einer gewissen Weise angeordnet sein. Sonst kann ich nicht schlafen, aus dem Haus gehen oder mich einer bestimmten Aufgabe widmen. Schiebt sich das Bedürfnis nach Ordnung zu sehr in den Vordergrund, besteht die Gefahr, dass wichtige Dinge liegen bleiben – privat oder beruflich.
Es ging also um eine kritische Selbstbeobachtung. Welche Ziele verfolgten Sie mit der Arbeit?
Ich wollte herausfinden, was die Zwangsstörung mit mir macht, also meine Situation reflektieren und Lösungen finden, wenn sie sich ankündigt. Ich bin seit vier Jahren in psychologischer Behandlung und wollte das Thema auch deshalb aufgreifen, weil man in der Regel nicht über Zwangsstörungen spricht und wenig darüber weiss. Es ist ein Tabuthema. Ich möchte anderen Betroffenen Mut machen, offen darüber zu sprechen. Mich mit dieser Arbeit zu outen, hatte auch etwas Befreiendes. Mittlerweile geht es mir deutlich besser.
Wie sind Sie die Arbeit angegangen? Welche Teile umfasst sie?
Am Anfang standen die Selbstreflexion und die Suche nach Lösungen. Hinzu kam ein Gespräch mit einer mir bekannten Person, die ebenfalls an einer Zwangsstörung leidet und deshalb kurze Zeit in einer psychiatrischen Klinik war. Ein weiterer Teil meiner Arbeit war ein Interview, das ich mit meiner Psychologin führte. Wir sprachen allgemein über das Thema Zwangsstörung. Am schwierigsten an meiner Arbeit war für mich, der Leserschaft zu erklären und zu beschreiben, was genau in mir vorgeht, wenn die Ordnungsstörung da ist. Ich fand dafür nur schwer Worte. Es ist kein Zufall, dass das Umfeld in der Regel nicht versteht, was abgeht.
Nun liegt Ihre Vertiefungsarbeit vor. Welches sind in Ihren Augen die wichtigsten allgemeinen Erkenntnisse? Ihre Tipps für Betroffene?
Es hat sich klar herausgeschält, dass Stress die Zwangsstörung begünstigt. Man sollte daher möglichst dafür sorgen, stressige Situationen im Alltag zu vermeiden. Zentral ist ebenfalls, dass man sich jemandem anvertraut. Über die Situation zu reden, hilft und tut gut. Man muss sich nicht schämen dafür, dass es so ist, wie es ist. Entscheidend ist, dass man immer daran arbeitet zu erledigen, was ansteht. Das ist zwar schwer, aber lohnt sich. Sonst gerät irgendwann alles aus den Fugen.
Was nehmen Sie persönlich für Ihr Berufsleben mit aus Ihrer Arbeit?
Ich möchte vermehrt mit den Menschen, die mich umgeben, reden und nicht immer alles für mich behalten. Das ist gerade auch im Arbeitsleben wichtig. Der Arbeitgeber muss informiert sein über meine Situation. Weiter habe ich mir vorgenommen, mich nicht mehr so schnell stressen zu lassen. Daran will ich arbeiten. Mittlerweile sehe ich meinen Zwang zur Ordnung auch mit etwas anderen Augen. In einem gewissen Mass ordnungsliebend zu sein, kann im Berufsleben auch ein Trumpf sein.
Die Vertiefungsarbeit
Die Vertiefungsarbeit ist in gewerblichen Berufen Teil des Qualifikationsverfahrens (QV – ehemals Lehrabschlussprüfung) und gehört zum Bereich «Allgemeinbildung». Beurteilt werden die Bereiche Arbeitsorganisation, Arbeitstechnik, Recherche, Dokumentation, Argumentation und Reflexion. Im Rahmen einer Präsentation legen die Lernenden ihre Erkenntnisse der eigenen Klasse sowie zwei Expertinnen und Experten dar.
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