Prestigedenken spielt bei der Berufswahl eine zentrale Rolle. Einen starken Einfluss haben die Vorstellungen und Erwartungen der Eltern. Immer wichtiger wird jedoch die Meinung von Gleichaltrigen – und zwar in Form von Likes in Sozialen Medien. Das sagt Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften.
Rolf Marti
Sie haben in einem Gastkommentar in der NZZ geschrieben, die Berufswahl sei mehr und mehr Prestigedenken unterworfen. Wie ist das zu verstehen?
Eltern erwarten, dass ihre Kinder beruflich mindestens denselben – lieber aber einen höheren – Level erreichen wie sie. Dabei gilt das Gymnasium als Königsweg. Reicht es nicht fürs Gymnasium, sollte es wenigstens eine prestigeträchtige und intellektuell anspruchsvolle Lehre sein. Ganz nach der Devise: Man muss es im Kopf haben, nicht in den Händen. Das macht sich gut beim Apéro-Smalltalk.
Wer oder was prägt das Image eines Berufs?
Unsere Gesellschaft ist auf Erfolg getrimmt. Schauen Sie sich auf Social Media und Netflix um: Sie sehen grossmehrheitlich attraktive und erfolgreiche Leute. Wer nicht mithalten kann, ist ein Versager. Und sozialer Abstieg wird nicht goutiert. Hinzu kommt, dass wir in den letzten zehn Jahren eine starke Akademisierung der Berufswelt erlebt haben, was auch mit der steigenden internationalen Mobilität in der Arbeitswelt zu tun hat. In den meisten Ländern erfolgt die Berufsausbildung mehrheitlich an Schulen bzw. Hochschulen. Das führt dazu, dass die Berufsbildung in der Schweiz zunehmend skeptischer gesehen wird.
Wie wirkt sich Prestigedenken auf die Berufswahl aus?
Die Berufswahl geht am Potenzial vieler Kinder vorbei. Jugendliche wählen nach zwei Hauptkriterien. Erstens: Passt der Beruf zu meinem Geschlecht? Zweitens: Verspricht er soziale Anerkennung? Letzteres wird stark davon geprägt, wie die Eltern einen Beruf sehen. Wenig Prestige geniessen Berufe, welche mit schweisstreibender Arbeit oder schmutzigen Händen verbunden werden. Viele Jugendliche versuchen daher, im Gymnasium, in der Fachmittelschule oder in einer anspruchsvollen Lehre unterzukommen, obwohl sie die Voraussetzungen dafür nicht mitbringen und diese Ausbildungen nicht ihren Interessen und Talenten entsprechen.
Sie schreiben in Ihrem Gastkommentar, die Meinung der Gleichaltrigen werde für die Berufswahl immer wichtiger. Woran machen Sie das fest?
Seit der Pandemie suchen Jugendliche vermehrt Rückhalt in Sozialen Medien. Bezogen auf die Berufswahl bedeutet dies, dass Ausbildungen im Netzwerk auf soziale Anerkennung gecheckt werden. «Was meint ihr, wenn ich diesen oder jenen Beruf erlerne?» Berufe mit wenig Prestige erzielen ein schlechtes Rating und werden fallen gelassen – selbst, wenn zuvor ein solider Auswahlprozess mit Hilfe der Berufsberatung stattgefunden hat.
Was passiert danach?
Viele Jugendliche scheitern beim Versuch, eine Ausbildung zu machen, die nicht zu ihnen passt. Sie schaffen den Sprung ans Gymnasium nicht oder fallen aus dem Gymnasium; oder sie finden keine Lehrstelle im anvisierten Beruf bzw. brechen die Ausbildung ab. Das führt zu Frustration. Mehr noch: Viele geraten in einen Teufelskreis. Weil sie den hohen Erwartungen nicht genügen, gehen sie in den Gegenangriff: «Was die Arbeitswelt von mir erwartet, kann ich nicht leisten.» Sie werden depressiv oder machen aus ihrer Lage eine Art «Lifestyle».
Was kann man dem Prestigedenken in der Berufswahl entgegensetzen?
Zunächst müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir hier ein echtes Problem haben. Die Jugendlichen sind teilweise süchtig nach sozialer Anerkennung, insbesondere in den Sozialen Medien. Jugendliche sind auf Modelle – auf Vorbilder – angewiesen. Entsprechend sollten wir ihnen junge Menschen zeigen, die mit den Händen arbeiten, die mit dem «Übergwändli» im Tram unterwegs sind, die in weniger prestigeträchtigen Berufen Erfüllung finden und Erfolg haben. Das Wichtigste ist, dass wir ihnen weniger Theorie im Sinne von «Unser Bildungssystem ist durchlässig» vermitteln, sondern authentische Erfolgsgeschichten aus der Praxis erzählen.
Gibt es gute Beispiele?
Ja. SwissSkills vermarktet die Teilnehmenden von Berufsmeisterschaften ausgezeichnet. Da werden viele Berufsleute gezeigt, die nach der Realschule eine Lehre und eine erfolgreiche berufliche Laufbahn gemacht haben. Mit solchen Geschichten müssen wir in Sozialen Medien wie auch an Schulen und im Rahmen der Berufsberatung arbeiten. Das wirkt.
Zur Person
Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften der Universität Fribourg. Heute leitet sie in Aarau ihr eigenes, international tätiges Forschungsinstitut (Swiss Education). Zudem ist sie Gastprofessorin an diversen in- und ausländischen Universitäten sowie Mitglied in wissenschaftlichen Beiräten. Forschungsschwerpunkte: frühkindliche Bildung, Geschlechterrollen, Begabungsforschung, Chancengerechtigkeit, Berufsbildung, Schulabsentismus und Schulabbruch.
Gastkommentar NZZ
Der im Interview erwähnte Gastkommentar kann in der NZZ gelesen werden.
Link NZZ Gastkommentar
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