Marlène Thomi absolviert eine Ausbildung als Kauffrau in der Bundesverwaltung. Das ist alles andere als selbstverständlich, denn die junge Frau hat eine cerebrale Bewegungsstörung und sitzt im Rollstuhl. Im Gespräch verrät sie, wie sie ihren Lernalltag bewältigt.
Peter Brand
Frau Thomi, Sie bringen ein Geburtsgebrechen mit, eine cerebrale Bewegungsstörung. Wie äussert sich diese?
Ich habe eine rechtsbetonte Tetraspastik, vor allem die rechte Hand ist stark eingeschränkt. Die linke Seite ist deutlich weniger betroffen. Diese Hand ist vollständig einsatzfähig. Darum sage ich oft: Ich mache in meinem Leben alles mit links. Ich bin im Rollstuhl, kann aber an einer Hand geführt oder mit Rollator kurze Strecken gehen.
Was bedeutet die Beeinträchtigung für Ihren Arbeitsalltag?
Beim Gebäudeeingang habe ich VIP-Zugang. Das heisst, ich muss nicht durch die Sicherheitsschleuse – das wäre mit dem Rollstuhl gar nicht möglich – sondern kann mit bundespolizeilicher Genehmigung die Schiebetüre benützen, die sonst nur Bundesräten offen steht. Ich verfüge zudem über eine Minitastatur, mit der ich mit der linken Hand das gesamte Buchstabenfeld abdecke. Ich bin beim Schreiben langsamer als andere, liefere aber qualitativ gute Arbeit ab. Mein Büroplatz lässt mir genügend Platz für den Rollstuhl und die Behindertentoilette ist sehr grosszügig.
Mit Beeinträchtigung gelingt es Ihnen, eine Lehre zu absolvieren und diese demnächst mit Erfolg abzuschliessen. Wie schaffen Sie das?
Ich stehe jeden Morgen auf und nehme mir vor, das Beste zu geben. Ich musste schon viel einstecken, habe meine Situation aber akzeptiert. Das ist sehr wichtig, um weiterzugehen. Das Leben, das ich habe, ist für mich normal. Ich kenne nichts anderes. Hadere ich einmal, erinnere ich mich an die positiven Dinge in meinem Leben. Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Und: Geht nicht gibt’s nicht. Mit diesen beiden Leitgedanken gehe ich durch die Ausbildung. Ich sehe mich als «normale» Lernende und werde über das gleiche Fähigkeitszeugnis verfügen wie alle anderen.
Wer unterstützt Sie auf Ihrem Weg?
Vor allem meine Mutter, meine Familie, mein verstorbener Vater, solange es ihm möglich war. Er war bereits krank, als er von meiner Lehrstelle erfuhr und platzte fast vor Freude und Stolz. Ich bin in meiner Ausbildung nie auf negative Reaktionen gestossen. Der Lehrbetrieb, die Berufsfachschule, meine Mitlernenden: Alle sind sehr verständnisvoll, aufmerksam und hilfsbereit. Alle glauben an mich und wollen das Beste für mich, was wiederum mich sehr motiviert.
Ihr Lehrbetrieb ist das Generalsekretariat im Eidgenössischen Departement des Innern (GS-EDI). Welches sind hier Ihre Aufgaben?
Im ersten Lehrjahr war ich in der Registratur. Meine Aufgabe war es, Bürgerbriefe im Ablagesystem zu erfassen und weiterzuleiten. Das waren in der Coronazeit viele Hass- und Wutbriefe, was nicht nur einfach war. Im zweiten Lehrjahr arbeitete ich in der Personalabteilung, wo ich Mutationen festhielt, eingehende Bewerbungen bearbeitete und Arbeitszeugnisse schrieb. Ich lernte dadurch alle Mitarbeitenden im Haus kennen und schätzte das mir entgegengebrachte Vertrauen. Dann war ich ein halbes Jahr im Sekretariat der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Und das letzte halbe Jahr bin ich in der Finanzabteilung.
Wie unterstützt Sie Ihr Arbeitsumfeld?
Alle Kolleginnen und Kollegen unterstützen mich nach Kräften. Ich fühle mich sehr wohl, bin seit dem ersten Tag integriert und werde als ganz «normale» Lernende wahrgenommen. Es gibt keine Berührungsängste. Zudem verfüge ich über eine gute Büroinfrastruktur. Als ich vom GS-EDI angestellt wurde, absolvierte ich zuerst eine Schnupperlehre. Diese zeigte, welche Anpassungen an die Infrastruktur für mich nötig waren.
Im Sommer schliessen Sie Ihre Lehre ab. Wie geht es für Sie weiter?
Ich habe soeben erfahren, dass mich das Generalsekretariat EDI weiterbeschäftigt. Parallel dazu werde ich die Berufsmaturität absolvieren. Ich bin sehr glücklich über diese Lösung.
Was bedeutet es Ihnen, über einen Berufsabschluss zu verfügen und im ersten Arbeitsmarkt arbeiten zu können?
Das ist für mich eine Genugtuung, die mich sehr stolz macht. Ich möchte ein normales und selbstständiges Leben führen. Dazu gehören eine Ausbildung und eine Arbeitsstelle. Ich möchte ein Zeichen setzen für Jugendliche, die in einer ähnlichen Situation sind wie ich. Ich möchte ihnen sagen: Ich habe es geschafft, du kannst es auch. Versuche es.
Berufsbildung Bundesverwaltung
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