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Bildungsbericht 2023 — «Auch im Bildungssystem gibt es Kipppunkte»

«Je mehr Jugendliche eine Berufslehre absolvieren, desto höher die Abschlussquote auf Sekundarstufe II», sagt Stefan C. Wolter

95 von 100 jungen Erwachsenen sollen eine Berufslehre oder Mittelschule abschliessen, fordert die Schweizer Bildungspolitik. Der Bildungsbericht 2023 zeigt: Das Ziel wird verfehlt. Im Gespräch: Bildungsökonom Stefan C. Wolter.

Rolf Marti

Die Schweiz hat sich 2006 zum Ziel gesetzt, dass 95 Prozent der 25-Jährigen über einen Berufs- oder Mittelschulabschluss verfügen (Sekundarstufe II). Aktuell liegt die Quote bei 91,4 Prozent. Warum wird das Ziel verfehlt?
Es gibt zwei fast gleich grosse Gruppen an Jugendlichen, die keinen nachobligatorischen Abschluss erzielen. Die eine Gruppe bringt schlicht die schulischen Voraussetzungen für eine Lehre oder eine Mittelschule nicht mit, die andere Gruppe scheitert in der Ausbildung. Die Ursachen für beides sind auf systemischer wie auf individueller Ebene zu finden.

Bedeutet systemisch: Die Volksschule bringt die Jugendlichen nicht auf das erforderliche Niveau für den Einstieg in eine nachobligatorische Ausbildung?
Richtig, wobei die beiden Ebenen nicht scharf zu trennen sind. Persönlichkeitsmerkmale wirken sich insbesondere bei schulisch schwächeren Jugendlichen stark auf den Bildungserfolg aus. Wer überzeugt ist, dass er oder sie die eigene Situation beeinflussen kann, schafft in der Regel trotz schlechter Voraussetzungen einen nachobligatorischen Abschluss. Wer denkt, Erfolg hänge von äusseren Faktoren ab, scheitert zumeist. Die sogenannte Kontrollüberzeugung – der Locus of Control – ist also entscheidend.

Wie wirkt sich die Migration auf die Quote der nachobligatorischen Abschlüsse aus?
Bei Jugendlichen der ersten Generation liegt die Abschlussquote deutlich unter dem Durchschnitt. 50 Prozent der Differenz gegenüber Schweizerinnen und Schweizern lassen sich durch schulische Unterschiede erklären. Über die restlichen Gründe können wir nur spekulieren. Für die zweite Migrationsgeneration sind die Unterschiede kleiner und lassen sich ebenfalls zur Hälfte durch schulische Nachteile in der obligatorischen Schule erklären.

Der Kanton Bern erreicht eine Quote von 91 Prozent, im Kanton Nidwalden liegt sie bei 96 Prozent. Was macht Nidwalden besser?
Grundsätzlich gilt: Je mehr Jugendliche in einem Kanton eine Berufslehre absolvieren, desto höher liegt die Abschlussquote auf Sekundarstufe II. In den Kantonen der Innerschweiz sowie in den Kantonen der Ostschweiz machen rund 80 Prozent jener Jugendlichen, die eine nachobligatorische Ausbildung abschliessen, eine Lehre. Im Kanton Genf sind es beispielsweise nur 45 Prozent. Entsprechend liegt die Quote bei nur 83 Prozent. Der Kanton Bern bewegt sich im schweizerischen Mittelfeld.

Was ist zu tun, damit die schweizweit angestrebten 95 Prozent erreicht werden?
Wir müssen das schulische Niveau der Jugendlichen heben, die Persönlichkeitsbildung fördern und für einen optimalen Mix zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung sorgen.

Die Berufsbildung verliert aber gegenüber der Allgemeinbildung an Boden.
Ja, in den meisten Kantonen. Nur in vier Kantonen hat sich der Mix seit dem Bildungsbericht 2014 nicht verändert. Die Berufsbildung verliert insbesondere in städtisch geprägten Gebieten und in der Westschweiz Terrain, wobei die Unterschiede zwischen den Kantonen zunehmen. Wo der Anteil der Berufsbildung bereits tief war, ist er überproportional zurückgegangen.

Ist das ein Problem?
Ja. Auch im Bildungssystem gibt es Kipppunkte. Sinkt der Anteil der Berufsbildung unter eine gewisse Marke, erleben wir eine Stigmatisierung dieses Bildungswegs. Plötzlich wollen alle ans Gymnasium, weil das alle andern auch wollen. Das sehen wir in Deutschland. Was vielen nicht bewusst ist: Dieser Kipppunkt ist weit vor der 50-Prozent-Marke erreicht. Noch etwas: Durch den Anstieg der Gymnasialquote kommen mehr Jugendliche ans Gymnasium, die dem Anforderungsprofil nicht genügen. Halten die Gymnasien ihr Niveau, steigt die Zahl jener, die scheitern – was sich in der Abschlussquote auf Sekundarstufe II widerspiegelt.

Wie wirken sich die kantonal divergierenden Entwicklungen auf den Lehrstellenmarkt aus?
Das Bildungsangebot und die Wirtschaftsstruktur beeinflussen sich gegenseitig. Einerseits werden in Kantonen mit hohem Anteil der Berufsbildung auch mehr Lehrstellen angeboten. Andererseits orientieren sich die Jugendlichen in ihren Bildungsentscheidungen an der lokalen Wirtschaftsstruktur. Wo viele attraktive Lehrstellen angeboten werden, entscheiden sich mehr leistungsstarke Jugendliche für die Berufsbildung und gegen das Gymnasium. Ein gutes Beispiel ist das Rheintal, wo viele Industriebetriebe Lehrstellen in anspruchsvollen Lehrberufen anbieten. Entsprechend liegt die gymnasiale Maturitätsquote bei rund 10 Prozent.

Bildungsbericht Schweiz 2023

Der «Bildungsbericht Schweiz 2023» vermittelt Daten und Informationen zum Bildungswesen – von der Vorschule bis zur Weiterbildung. Er dient als Grundlage für die Formulierung der gemeinsamen Bildungsziele von Bund und Kantonen. www.bildungsbericht.ch
 

Zur Person

Stefan C. Wolter ist Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung sowie Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern. Er ist Projektleiter und Co-Autor des Bildungsberichts.

Der «Einsteiger» ist eine Dienstleistung der Espace Media Groupe (Publikationsplattform) und des Mittelschul- und Berufsbildungsamts des Kantons Bern (redaktionelle Verantwortung). Er ist eine Informationsplattform zur Berufs- und Mittelschulbildung.

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