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Berufswahl — «Das regionale Lehrstellenangebot beeinflusst die Berufswahl»

Neigungen, Interessen, Geschlecht und sozialer Status beeinflussen die Berufswahl – aber auch der Wohnort. Andreas Kuhn von der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung erklärt, weshalb das so ist und er darin keine Benachteiligung sieht.

«Jugendliche machen ungern eine Lehre in einem anderen Sprachgebiet», sagt Andreas Kuhn. Bild: zvg.

       

Interview: Rolf Marti

Herr Kuhn: Stimmt es, dass sich der Wohnort auf die Berufswahl der Jugendlichen auswirkt?
Ja, das regionale Lehrstellenangebot beeinflusst die Berufswahl. Zwei Aspekte spielen dabei zusammen. Erstens: Das Lehrstellenangebot spiegelt die wirtschaftlichen Aktivitäten. So ist in Agglomerationen die Auswahl an Berufen und Lehrstellen grösser als in Randregionen. Und: Gewisse Berufe werden nur in einzelnen Regionen ausgebildet. So gibt es Lehrstellen für Seilbahnmechatroniker nur in Berggebieten, Lehrstellen für Uhrmacherinnen primär im Jurabogen. Zweitens: Jugendliche sind geografisch wenig mobil. Ihr Suchradius für Lehrstellen ist stark an den Wohnort der Eltern gebunden. Wird im näheren Umkreis keine Lehrstelle für einen Beruf angeboten, fällt dieser meist aus dem Berufswahlspektrum.

Ist es nicht einfach so, dass Jugendliche primär Berufe wählen, die sie aus ihrem Alltag und ihrem Umfeld kennen?
Dazu machen unsere Daten keine Aussage. Aber die Vermutung liegt nahe, dass dies die Berufswahl stark beeinflusst. Dies zeigt allein die Tatsache, dass überdurchschnittlich viele Jugendliche den Beruf von Vater oder Mutter ergreifen, wie wir aus anderen Studien wissen.

Sie haben es gesagt: In Agglomerationen stehen mehr Lehrberufe zur Auswahl als auf dem Land. Sind Jugendliche aus Randregionen bei der Berufswahl benachteiligt?
Nicht zwingend. Klar: Jugendlichen in Agglomerationen steht ein umfassenderes Angebot zur Verfügung. Dafür ist die Konkurrenz um Lehrstellen grösser. Zudem ist das Bildungssystem der Schweiz durchlässig. Nach einer Lehre stehen verschiedene Bildungswege offen, und die regionale Mobilität steigt. Diese Faktoren sorgen über die Zeit für einen Ausgleich. Was einer Benachteiligung auch entgegenwirkt: 75 Prozent der Lehrverhältnisse konzentrieren sich auf 30 Berufe, die in fast allen Regionen ausgebildet werden – Kaufleute, Fachleute Gesundheit oder Informatikerinnen und Informatiker usw.

Wie weit sind Jugendliche im wörtlichen Sinn bereit zu gehen, um eine Lehrstelle im Wunschberuf zu erhalten?
Im Durchschnitt nehmen sie bis zu 80 Minuten Reisezeit pro Tag in Kauf – hin und zurück. 90 Prozent der Jugendlichen pendeln maximal 135 Minuten pro Tag. Bei Erwachsenen dauert der Arbeitsweg im Durchschnitt rund 60 Minuten. Lernende verwenden also im Durchschnitt mehr Zeit für den Arbeitsweg als Arbeitspendler.

Der Kanton Bern ist zweisprachig. Wie wirkt sich der Röstigraben auf das Berufswahlverhalten aus?
Jugendliche machen ungern eine Lehre in einem anderen Sprachgebiet. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Lehrverhältnis kommt, sinkt um 75 Prozent, wenn zwischen Wohn- und Lehrort eine Sprachgrenze liegt. Dieses Ergebnis erstaunt nicht. Der Wechsel von der Schule in die Lehre ist ein grosser Schritt. Da will man nicht zusätzlich eine Sprachhürde überwinden.

Wie zeigt sich die Situation in der zweisprachigen Stadt Biel? Sind die Voraussetzungen für deutschsprachige bzw. französischsprachige Jugendliche identisch?
Nein. 40 Prozent der Bielerinnen und Bieler sprechen Französisch. Doch nur 30 Prozent der Lehrstellen werden von französischsprachigen Jugendlichen besetzt. Allerdings spielen kulturelle Unterschiede eine zentrale Rolle. Die Berufsbildung geniesst in der Westschweiz nicht denselben Stellenwert wie in der Deutschschweiz. Das bedeutet: Französischsprachige Jugendliche entscheiden sich deutlich öfter für eine allgemeinbildende Schule.

Sehen Sie Handlungsbedarf für Politik und Verwaltung, um die Mobilität der Lernenden über Regionen und Sprachgrenzen hinaus zu fördern?
Seitens der Politik erkenne ich wenig Handlungsbedarf, auch weil die Instrumente dazu fehlen. Klar: Das Lehrstellenangebot unterscheidet sich von Region zu Region. Aber damit geht meines Erachtens – in den meisten Regionen der Schweiz – keine spezifische Benachteiligung von Jugendlichen einher. Auf Verwaltungsebene könnte man allenfalls strukturelle Hürden zwischen den Kantonen abbauen, sodass Lernenden nicht unnötige Kosten entstehen, wenn sie die Lehre in einem anderen als dem Wohnkanton absolvieren. Und an den Sprachgrenzen könnte man Jugendlichen die Vorteile besser aufzeigen, die es bringt, wenn man die Lehre in einer Fremdsprache absolviert.

Tipps zum Lehrstart

Dr. Andreas Kuhn ist Senior Lecturer und Senior Researcher in den Sparten Ausbildung, Forschung und Entwicklung der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung.
www.ehb.swiss

Im Online-Magazin Transfer hat er diverse Beiträge zu Berufswahl und zur Mobilität von Lernenden publiziert.
www.transfer.vet (Suchbegriff: Andreas Kuhn)

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